Ásatrú (auch Asatro oder Asatru) ist eine moderne neuheidnische Religion, die sich an den rekonstruierten vorchristlichen Glaubensvorstellungen der germanischen Völker, insbesondere der nordgermanischen Tradition, orientiert. Der Begriff „Ásatrú“ stammt aus dem Altnordischen und bedeutet wörtlich übersetzt „Treue zu den Asen“, wobei die Asen die Hauptgruppe der Götter im nordischen Pantheon darstellen. Ásatrú versteht sich als Wiederbelebung einer polytheistischen Weltanschauung, die die Verehrung der altgermanischen Gottheiten, die Achtung vor den Naturkräften und die Pflege überlieferter Bräuche zum Inhalt hat. In ihrer modernen Ausprägung entwickelte sich Ásatrú im Verlauf des 20. Jahrhunderts und ist heute in verschiedenen Ländern Europas, Nordamerikas und Ozeaniens verbreitet.

Begriffsgeschichte und Etymologie

Der Begriff „Ásatrú“ ist erstmals im 19. Jahrhundert in Island bezeugt worden, als man versuchte, eine geeignete Bezeichnung für die rekonstruierte Religion der nordgermanischen Völker zu finden. Das Wort setzt sich zusammen aus „Ása-“, dem Genitiv Plural von „Áss“, was „Gott“ oder „Asengott“ bedeutet, und „trú“, was mit „Glaube“ oder „Treue“ übersetzt werden kann. Der Terminus wurde 1870 von dem isländischen Dichter und Gelehrten Sveinbjörn Beinteinsson geprägt, der später eine zentrale Figur der Ásatrúarfélagið wurde, der 1972 gegründeten isländischen Ásatrú-Gemeinschaft. Im deutschsprachigen Raum wird Ásatrú gelegentlich auch als „Asenglaube“ oder „Glaube an die Asen“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Heidentum“ wird im weiteren Zusammenhang gebraucht, wenngleich sie historisch mit einer christlichen Perspektive behaftet ist.

Historische Hintergründe

Die historische Grundlage von Ásatrú liegt in der Religion der germanischen Völker während der Eisenzeit und der Wikingerzeit. Diese Religion war polytheistisch, naturverbunden und durch eine Vielzahl von Kultpraktiken geprägt, die lokal und stammesbezogen unterschiedlich ausgeprägt waren. Die wichtigsten schriftlichen Quellen über die germanische Mythologie stammen aus der altnordischen Literatur des Mittelalters, insbesondere der „Edda“, die sowohl in ihrer sogenannten Lieder-Edda als auch in der Prosa-Edda des Snorri Sturluson wesentliche Mythen und Göttervorstellungen überliefert. Die Christianisierung Skandinaviens im Zeitraum von etwa 800 bis 1200 führte zur allmählichen Aufgabe der alten Religionen, wenngleich sich viele volkstümliche Bräuche und mythologische Elemente in der mündlichen Überlieferung erhielten. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der nordischen Mythologie begann im Zuge der Renaissance des Nationalbewusstseins im 18. und 19. Jahrhundert und führte schließlich zur Entstehung moderner neuheidnischer Bewegungen.

Wiederbelebung und Entstehung des modernen Ásatrú

Die moderne Ásatrú-Bewegung nahm ihren Ausgang im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit der romantischen Wiederentdeckung des Nordens, wobei literarische, politische und ideologische Strömungen die Rezeption der altgermanischen Religionen beeinflussten. In Island wurde 1972 die Ásatrúarfélagið als erste anerkannte religiöse Gemeinschaft dieser Art offiziell gegründet. Die isländische Regierung erkannte die Ásatrúarfélagið 1973 als offizielle Religionsgemeinschaft an, was für die weitere Entwicklung der Bewegung von großer Bedeutung war. In den Vereinigten Staaten bildeten sich in den 1970er Jahren ebenfalls erste Ásatrú-Gemeinschaften, darunter die Asatru Free Assembly, die später in die Asatru Alliance und die Asatru Folk Assembly überging. Im deutschsprachigen Raum entstand Ásatrú in den 1980er Jahren, wobei verschiedene Gruppen und Einzelpersonen unterschiedliche Ansätze verfolgten, von einer streng rekonstruktivistischen Orientierung bis hin zu esoterisch geprägten Interpretationen.

Grundüberzeugungen und theologische Konzepte

Das theologische Fundament von Ásatrú basiert auf der Verehrung der nordischen Götterwelt, die sich in zwei Göttergeschlechter gliedert: die Asen und die Wanen. Zu den bedeutendsten Gottheiten zählen Óðinn, der Göttervater und Gott der Weisheit, des Krieges und der Dichtung, Þórr, der Donnergott und Beschützer Midgards, sowie Freyja, Göttin der Fruchtbarkeit, der Liebe und der Seiðr-Magie. Ásatrú ist eine polytheistische Religion, in der die Götter als eigenständige und wirkmächtige Wesen verstanden werden, die mit den Menschen in eine wechselseitige Beziehung treten können. Neben den Göttern werden auch andere Wesenheiten wie Alben, Disen, Landgeister und Ahnen verehrt. Ein zentraler Aspekt von Ásatrú ist die Achtung gegenüber der Natur, die als beseelt und heilig betrachtet wird. Die ethischen Prinzipien des Ásatrú orientieren sich an den Tugenden der Ehre, des Mutes, der Loyalität, der Gastfreundschaft und der Wahrhaftigkeit. Diese Werte werden häufig mit dem Begriff „Sippenethik“ umschrieben, der die Verpflichtung gegenüber Familie, Gemeinschaft und Ahnen betont.

Kultische Praxis und Rituale

Die religiöse Praxis im Ásatrú ist geprägt von Ritualen, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Rahmen durchgeführt werden. Das zentrale Kultfest ist das Blót, eine Opferhandlung, bei der den Göttern, Ahnen und Naturgeistern Gaben dargebracht werden. Ursprünglich bestand das Blót in der Darbringung von Tieropfern, wobei in der modernen Praxis symbolische Opfer wie Met, Bier, Brot oder andere Lebensmittel verwendet werden. Die Rituale werden meist im Freien, an als heilig betrachteten Orten wie Hainen, Quellen oder Bergen abgehalten. Ein weiteres wichtiges Ritual ist das Sumbel, ein feierliches Trankopfer, bei dem die Teilnehmer rituelle Trinksprüche auf die Götter, die Ahnen und persönliche Schwüre aussprechen. Die Feiern orientieren sich an den Jahreszeiten und umfassen Feste wie das Julfest zur Wintersonnenwende, das Sigurblót im Frühling sowie das Alfablot im Herbst. In vielen Gemeinschaften spielen auch rituelle Namensgebungen, Hochzeiten und Bestattungsriten eine bedeutende Rolle. Die Rituale folgen in der Regel einer festen Struktur, die die Anrufung der Gottheiten, die Darbringung der Opfergaben und die Weihe des Versammlungskreises umfasst.

Organisationsformen und Gemeinschaften

Die organisatorische Struktur des modernen Ásatrú ist heterogen und reicht von formellen religiösen Körperschaften bis hin zu losen Gruppen und Einzelpraktizierenden. In Island ist die Ásatrúarfélagið die bekannteste Organisation, während in den Vereinigten Staaten verschiedene Gruppen bestehen, die teilweise stark unterschiedliche ideologische Ausrichtungen aufweisen. Die Asatru Folk Assembly vertritt eine ethnopluralistische Ausrichtung, während andere Gruppen wie die Troth eine inklusive Haltung einnehmen. In Deutschland bestehen Organisationen wie Eldaring, die sich dem rekonstruktivistischen Ansatz verpflichtet fühlen, sowie kleinere Gruppen, die sich lokal oder thematisch zusammenschließen. Die meisten Gruppen betonen die Selbstbestimmung und Freiheit ihrer Mitglieder in der religiösen Praxis, wobei häufig demokratische Entscheidungsstrukturen bestehen. Die Rolle des Gode oder der Gydja als priesterliche Amtsträger ist in vielen Gemeinschaften zentral und umfasst die Leitung der Rituale sowie die Seelsorge. Es existieren darüber hinaus informelle Netzwerke und Internetforen, die dem Austausch zwischen den Praktizierenden dienen.

Rechtliche Anerkennung und gesellschaftliche Wahrnehmung

In mehreren Ländern ist Ásatrú als offizielle Religion anerkannt. Island gewährte der Ásatrúarfélagið 1973 den Status einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft, was ihr bestimmte Rechte und Privilegien einräumt, darunter das Recht, Trauungen und Bestattungen durchzuführen. In Norwegen und Dänemark sind ähnliche Anerkennungen erfolgt. In Deutschland ist Ásatrú rechtlich als Weltanschauungsgemeinschaft oder als Verein organisiert, da die Voraussetzungen für die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in der Regel nicht erfüllt sind. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Ásatrú ist ambivalent. Während die Religion als Ausdruck kultureller Selbstbestimmung geschätzt wird, sieht sie sich auch mit Vorurteilen konfrontiert, die insbesondere auf die missbräuchliche Rezeption nordischer Symbole durch rechtsextreme Gruppierungen zurückzuführen sind. Viele Ásatrú-Organisationen distanzieren sich ausdrücklich von rassistischen und völkischen Ideologien und betonen ihre pluralistische und offene Haltung.

Theologische Strömungen und innerreligiöse Debatten

Innerhalb der Ásatrú-Bewegung existieren verschiedene Strömungen, die sich in ihrer theologischen Interpretation und ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung unterscheiden. Der rekonstruktivistische Ansatz zielt auf eine möglichst authentische Wiederbelebung der historischen Religion auf der Grundlage archäologischer, philologischer und historischer Quellen ab. Daneben existiert ein eklektischer Ansatz, der Elemente anderer spiritueller Traditionen integriert und eine persönlichere Religionsausübung betont. Eine weitere Unterscheidung erfolgt zwischen universalistischen Gruppen, die Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft in die Glaubensgemeinschaft aufnehmen, und identitären Strömungen, die Ásatrú als eine an bestimmte ethnokulturelle Gruppen gebundene Religion betrachten. Diese innerreligiösen Debatten betreffen Fragen der theologischen Legitimität, der rituellen Praxis und der ethischen Ausrichtung der Religion. Auch die Interpretation der Rolle der Frau und der Geschlechterverhältnisse in der Religion ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, wobei viele Gruppen eine egalitäre Haltung vertreten.

Symbolik und kulturelle Ausdrucksformen

Die Symbolik des Ásatrú ist eng mit den überlieferten Zeichen und Bildern der nordischen Kultur verbunden. Das bekannteste Symbol ist der Mjölnir, der Hammer des Gottes Þórr, der als Schutzamulett getragen wird. Weitere verbreitete Symbole sind die Valknut, ein dreifach verschlungener Knoten, der mit dem Gott Óðinn assoziiert wird, sowie das Yggdrasil-Motiv, das den Weltenbaum darstellt. Runen spielen eine wichtige Rolle in der symbolischen Kommunikation und werden in Ritualen, zur Divination oder als persönliche Zeichen verwendet. Die kulturellen Ausdrucksformen des Ásatrú umfassen die Pflege der altnordischen Sprache, die Rekonstruktion historischer Kleidung und Handwerkskünste sowie das Erzählen und Aufführen mythologischer Geschichten. Musik, insbesondere in Form von Gesang und Trommelspiel, ist ein wesentlicher Bestandteil vieler ritueller Feiern. In der modernen Populärkultur finden sich zahlreiche Bezüge zur nordischen Mythologie, die teils als Inspiration für die Ásatrú-Gemeinschaften dienen, teils jedoch kritisch betrachtet werden, da sie die religiösen Inhalte verfremden oder trivialisieren.

Forschungsgeschichte und akademische Perspektiven

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ásatrú ist Teil der Religionswissenschaft, der Ethnologie und der Soziologie. In den 1990er Jahren entstand ein verstärktes akademisches Interesse an neuheidnischen Bewegungen, wobei Ásatrú als Teil des breiteren neopaganen Spektrums untersucht wurde. Studien analysieren die Entstehungsgeschichte, die rituelle Praxis, die soziale Zusammensetzung und die politischen Implikationen der Bewegung. Kritisch betrachtet werden insbesondere die Schnittstellen zwischen Ásatrú und rechtsextremen Ideologien, wobei differenziert wird zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der Religion. Zugleich wird Ásatrú als Ausdruck moderner Identitätssuche und als Versuch einer Wiederaneignung prächristlicher Traditionen gewertet. Die Forschung thematisiert auch die Fragen der Authentizität, der Konstruktion von Tradition und der Aushandlung religiöser Autorität in einer dezidiert nicht-hierarchischen Religionsgemeinschaft.

Verbreitung und demographische Entwicklung

Die Verbreitung von Ásatrú ist schwer zu quantifizieren, da viele Anhänger keiner formellen Gemeinschaft angehören. In Island verzeichnet die Ásatrúarfélagið im Jahr 2025 rund fünftausend Mitglieder, was etwa 1,3 Prozent der Bevölkerung entspricht. In den Vereinigten Staaten und Kanada gibt es zahlreiche kleinere Gemeinschaften, deren Mitgliederzahlen sich im unteren vier- bis fünfstelligen Bereich bewegen. In Deutschland und anderen europäischen Ländern sind Ásatrú-Gemeinschaften regional unterschiedlich stark vertreten, wobei die Mitgliederzahlen einzelner Gruppen meist einige hundert Personen umfassen. In Australien und Neuseeland bestehen ebenfalls Ásatrú-Gemeinschaften, die Teil internationaler Netzwerke sind. Die demographische Zusammensetzung ist vielfältig, wobei ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Personen mit akademischem Hintergrund, aber auch Angehörige traditioneller Handwerksberufe vertreten sind. Die Bewegung umfasst unterschiedliche Altersgruppen, wobei viele jüngere Menschen durch das Interesse an nordischer Mythologie und Kultur Zugang finden.

Verhältnis zu anderen Religionen und interreligiöser Dialog

Ásatrú versteht sich als eigenständige Religion, die nicht im Wettbewerb mit den Weltreligionen steht, sondern eine alternative spirituelle Option darstellt. Die meisten Gemeinschaften betonen den Respekt vor anderen religiösen Traditionen und pflegen in einigen Fällen den Dialog mit Vertretern indigener Religionen oder anderer neopaganer Strömungen. In Island besteht eine Zusammenarbeit mit der heidnischen Gemeinschaft der Zuist-Bewegung, während in den Vereinigten Staaten Kontakte zu Wicca- und Druidentraditionen bestehen. Konflikte entstehen vor allem dann, wenn Ásatrú von außen mit ideologischen Strömungen assoziiert wird, die den interreligiösen Dialog ablehnen. Die meisten Gruppen betonen jedoch den Grundsatz der Toleranz und des friedlichen Miteinanders in einer pluralistischen Gesellschaft.

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