Astronomie der Germanen
Die Astronomie der Germanen bezeichnet die Gesamtheit der Vorstellungen, Beobachtungen und Deutungen himmlischer Erscheinungen bei den germanischen Völkern der Antike und der frühen Völkerwanderungszeit. Sie umfasste sowohl praktische Aspekte der Zeitrechnung und Kalendrierung als auch religiös-kultische und mythologische Deutungen von Himmelskörpern und astronomischen Phänomenen. Obgleich keine ausgearbeitete wissenschaftliche Astronomie nach dem Vorbild der antiken Hochkulturen des Mittelmeerraums überliefert ist, belegen archäologische Funde, schriftliche Quellen und mythologische Überlieferungen ein bemerkenswertes Interesse der Germanen an der Ordnung und Beobachtung des Himmels. Diese war untrennbar mit ihrer religiösen Vorstellungswelt und der Strukturierung des Jahreslaufs verbunden.
Quellenlage und Überlieferung
Die Quellenlage zur Astronomie der Germanen gestaltet sich fragmentarisch und indirekt, da aus vorchristlicher Zeit keinerlei originär schriftliche Zeugnisse germanischer Herkunft existieren. Die wichtigsten schriftlichen Hinweise stammen aus den ethnographischen Schriften antiker Autoren wie Tacitus, Plinius dem Älteren und Cäsar, die in ihren Berichten über die Germanen gelegentlich auf religiöse und kalendarische Praktiken Bezug nehmen. Von besonderer Bedeutung ist das Werk „Germania“ des römischen Historikers Tacitus, das um das Jahr 98 entstand und einige wenige Bemerkungen über den Umgang der Germanen mit Himmelserscheinungen enthält. Darüber hinaus liefern die altnordischen literarischen Denkmäler des Mittelalters, insbesondere die Edda-Dichtungen, sowie die isländischen Sagas und Snorri Sturlusons „Prosa-Edda“ und „Heimskringla“ wesentliche Anhaltspunkte für die mythologische Deutung der Gestirne und kosmischen Ordnung im germanischen Weltbild. Archäologische Befunde, wie die jungsteinzeitliche Kreisgrabenanlage von Goseck, sowie bronzezeitliche Funde, darunter die Himmelsscheibe von Nebra, zeugen darüber hinaus von einer im mitteleuropäischen Raum früh etablierten Tradition der Himmelsbeobachtung, deren Kontinuitäten in die germanische Kulturzeit hinein vermutet werden können.
Kalendarische Ordnungen und Zeitrechnung
Die germanischen Völker orientierten sich in ihrer Zeitrechnung primär an den Zyklen des Mondes, wie aus sprachlichen, schriftlichen und ethnographischen Zeugnissen hervorgeht. Der Begriff des Monats geht etymologisch auf den Mond zurück, und es ist überliefert, dass der Monatsbeginn mit dem Neumond einsetzte. Tacitus berichtet, dass die Germanen ihre Versammlungen und kultischen Handlungen bei zunehmendem oder Vollmond abhielten, da diese Zeit als besonders glückverheißend galt. Der Lunarkalender wurde offenbar durch Sonnenbeobachtungen ergänzt, um das Jahr in Abschnitte zu gliedern, die den agrarischen und kultischen Bedürfnissen der Gemeinschaft entsprachen. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Winter- und Sommersonnenwenden, die den Jahreslauf in zwei Hälften teilten. Hinweise auf ein solches Kalendersystem liefern die später überlieferten altnordischen Monatsnamen sowie die Berichte über jährliche Feste wie das Jul-Fest zur Wintersonnenwende. Die genaue Kalendrierung der Germanen bleibt indes weitgehend im Dunkeln, da keine schriftlichen Kalender oder astronomischen Tafeln überliefert sind.
Himmelskörper im mythologischen Weltbild
Die mythologische Deutung der Himmelskörper spielte im religiösen Kosmos der Germanen eine zentrale Rolle. Sonne, Mond und Sterne wurden personifiziert und in die mythologische Ordnung eingebettet. In der eddischen Kosmologie erscheint die Sonne als Göttin „Sol“, die in einem von göttlichen Pferden gezogenen Wagen über den Himmel fährt, verfolgt von dem Wolf Skalli. Ihr Bruder „Mani“, der Mond, lenkt ebenfalls einen Wagen und wird vom Wolf Hati gejagt. Diese Vorstellung verweist auf eine enge Verbindung zwischen Himmelserscheinungen und Schicksalsglauben. Der Untergang von Sonne und Mond bei der Götterdämmerung (Ragnarök) wurde als kosmische Katastrophe betrachtet, bei der die Weltordnung untergeht und durch eine neue ersetzt wird.
Die Sterne wurden als Funken gedeutet, die bei der Erschaffung der Welt von den Göttern aus Muspellsheimr an den Himmel gesetzt worden seien. Von besonderer Bedeutung war das Sternbild des Großen Bären, im Deutschen auch als „Großer Wagen“ bekannt, das als Orientierungshilfe diente und möglicherweise mythologische Bedeutungen als Symbol für eine göttliche Schutzgestalt oder als Sitz von Göttern gehabt haben könnte. Der Orion könnte als Darstellung eines himmlischen Jägers oder Kriegsgottes gedeutet worden sein, wenngleich hierfür keine eindeutigen Belege existieren. Die Himmelserscheinungen wurden als sichtbare Manifestationen göttlicher Kräfte verstanden und dienten der Weissagung, der Zeitrechnung und der religiösen Kulthandlung.
Kultische Himmelsbeobachtungen
Die Verbindung von Astronomie und Kult ist bei den Germanen vielfach anzunehmen. Bestimmte Feste wurden nach astronomischen Kriterien begangen. Das Jul-Fest zur Wintersonnenwende bildete das zentrale Jahresfest der Germanen und markierte die Wiederkehr des Lichts. Die Sommersonnenwende wurde ebenfalls mit kultischen Handlungen begangen, deren Einzelheiten jedoch weitgehend unbekannt sind. Die Wahl der Zeitpunkte für religiöse Handlungen, Versammlungen und Thing-Gerichte war offenbar ebenfalls an Himmelsbeobachtungen gekoppelt. Tacitus überliefert, dass die Germanen nicht durch feste Kalendertage, sondern nach dem Stand des Mondes über Krieg und Frieden berieten.
Archäologische Funde legen nahe, dass bestimmte Kultplätze auf Himmelsphänomene ausgerichtet waren. Die bereits in der Jungsteinzeit errichtete Kreisgrabenanlage von Goseck weist Tore auf, die exakt auf den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zur Wintersonnenwende ausgerichtet sind. Derartige Anlagen könnten bis in die germanische Zeit nachgewirkt oder rezipiert worden sein. Die Himmelsscheibe von Nebra aus der frühen Bronzezeit zeigt astronomische Symbole, darunter eine Sonne, einen Mond und Sterne, sowie Markierungen, die mit den Sonnenwenden in Verbindung gebracht werden. Obgleich dieser Fund rund 1000 Jahre vor der klassischen Germanenzeit entstand, deutet er auf eine tief verwurzelte Tradition der Himmelsbeobachtung in Mitteleuropa hin.
Irminsul und der Weltenbaum als kosmische Achsen
Zentral im Weltbild der Germanen war die Vorstellung einer kosmischen Achse, die Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verband. In der kontinentalgermanischen Tradition erscheint die „Irminsul“ als ein heiliges Kultbild, das möglicherweise als Abbild der Weltachse verstanden wurde. Der Sachsenspiegel beschreibt sie als „eine Säule, die alles trägt“. Der sächsische Chronist Widukind von Corvey berichtet, dass die Irminsul als Mittelpunkt des Kosmos verehrt wurde. In der nordischen Mythologie übernimmt der Weltenbaum „Yggdrasil“ diese Funktion. Er verbindet die neun Welten der Kosmologie und steht im Zentrum der Schöpfungsordnung.
Diese Vorstellungen korrespondieren mit den Himmelsbeobachtungen, da eine Weltachse auch astronomisch als Polarachse gedacht werden konnte, um die sich der Sternenhimmel dreht. Der Polarstern als Fixpunkt des Himmels und das ihn umkreisende Sternbild des Großen Bären könnten in dieser Vorstellung eine herausragende Rolle eingenommen haben. Die mythologische und astronomische Bedeutung dieser Achse wurde in den Kulten der Germanen manifest, indem zentrale Kulthandlungen im offenen Gelände unter dem freien Himmel oder an heiligen Bäumen und Säulen vollzogen wurden.
Bedeutung astronomischer Erscheinungen für Weissagung und Mythos
Astronomische Phänomene wie Finsternisse, Meteore oder besondere Sternkonstellationen wurden von den Germanen als Vorzeichen göttlicher Willensäußerungen gedeutet. Obgleich konkrete Berichte hierzu fehlen, lässt sich aus den allgemeinen religiösen und divinatorischen Praktiken schließen, dass der Himmel als Medium der Götterkommunikation angesehen wurde. In der eddischen Prophezeiung der „Völuspá“ wird geschildert, wie bei der Götterdämmerung Sonne und Mond verschwinden und die Sterne vom Himmel fallen, was als Endzeitzeichen gilt. Meteore und Kometen dürften als unheilvolle Omen betrachtet worden sein, wie es in vergleichbaren Kulturen belegt ist. Der Lauf des Mondes wurde zur Deutung günstiger und ungünstiger Zeitpunkte herangezogen.
Fortleben germanischer Himmelsvorstellungen im Mittelalter und in der Volkskultur
Nach der Christianisierung der germanischen Stämme wurden viele astronomische und kalendarische Vorstellungen in den mittelalterlichen Volksglauben integriert. Der Gebrauch von Mondsichel- und Sonnenmotiven in christlicher Symbolik, die Feier von Sonnenwendfesten und die volkstümliche Deutung von Himmelserscheinungen als Vorzeichen haben ihren Ursprung in vorchristlicher Zeit. Die Benennung der Wochentage nach germanischen Gottheiten, wie im Fall von „Wednesday“ für Wodans Tag oder „Thursday“ für Thors Tag im Englischen, spiegelt die enge Verbindung zwischen Himmelsbeobachtung und Religion wider. Die Erinnerung an die Irminsul lebt in volkstümlichen Erzählungen über Weltenbäume und Himmelsleitern fort. In den mittelalterlichen Rechts- und Volksbüchern findet sich das Motiv der himmlischen Ordnung und ihrer Spiegelung in irdischen Herrschafts- und Rechtsverhältnissen. Der Polarstern blieb im Volksglauben ein Symbol für göttliche Beständigkeit und kosmische Ordnung.
Forschungsgeschichte und archäoastronomische Deutungen
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Astronomie der Germanen setzte im Zuge der Frühmittelalterforschung des 19. Jahrhunderts ein. Frühromantische Historiker und Volkskundler versuchten, das germanische Weltbild aus den eddischen Texten und antiken Berichten zu rekonstruieren. Die archäologische Entdeckung von Kreisgrabenanlagen und die Interpretation der Himmelsscheibe von Nebra führten im 20. und 21. Jahrhundert zu einem verstärkten Interesse an der Archäoastronomie des mitteleuropäischen Kulturraums. Während frühe Deutungen oft spekulativ und von nationalistischer Ideologie überformt waren, bemüht sich die moderne Forschung um eine nüchterne Rekonstruktion der Himmelsbeobachtungen und ihrer religiösen und sozialen Bedeutung. Die Auswertung archäologischer Befunde in Verbindung mit historischen und sprachlichen Quellen lässt erkennen, dass die Germanen über ein differenziertes Wissen um astronomische Zyklen verfügten, das in mythologischen, kultischen und pragmatischen Kontexten genutzt wurde.

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