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Germanische Wissenschaft

Aus Germanologie
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Die germanische Wissenschaft bezeichnet eine während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts populäre Strömung innerhalb der europäischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, die sich intensiv mit der Erforschung der Kultur, Sprache, Geschichte und Rechtsvorstellungen der sogenannten Germanen auseinandersetzte. Sie entstand im Kontext der Nationalstaatsbildung und wurde sowohl von wissenschaftlichen als auch ideologischen Interessen geprägt. Ihre Wurzeln reichen in die Zeit der Romantik zurück, und sie erreichte ihren Höhepunkt während der Kaiserzeit und des aufkommenden Nationalsozialismus. Diese Wissenschaftsrichtung wurde stark von Vorstellungen über ethnische und kulturelle Ursprünge geprägt und spielte eine zentrale Rolle in den identitätsstiftenden Diskursen der damaligen Zeit.

Historischer Hintergrund

Der Begriff der „germanischen Wissenschaft“ entstand im Kontext des deutschen Nationalismus und ist eng mit der Suche nach einer nationalen Identität verbunden, die im 19. Jahrhundert, insbesondere nach den Befreiungskriegen 1813 bis 1815, an Bedeutung gewann. Gelehrte und Intellektuelle suchten nach den Ursprüngen des „deutschen Volkes“ und fanden in den Germanen, einem historisch unscharf definierten Völkerkomplex, ein geeignetes Symbol für die nationale Selbstvergewisserung.

Die Romantik und das erwachende Interesse an der Vergangenheit spielten eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der germanischen Wissenschaft. Romantiker wie Johann Gottfried Herder und die Brüder Grimm sahen in den Germanen die Repräsentanten einer ursprünglichen, reinen Kultur, die in Opposition zur römischen Zivilisation stand. Im Zuge dieser Entwicklung begann man, die altgermanische Sprache, das Recht und die Mythologie systematisch zu erforschen. Diese Arbeiten legten den Grundstein für die spätere Institutionalisierung der Germanistik und der vergleichenden Sprachwissenschaft.

Im 19. Jahrhundert erfuhr die Germanistik, die eng mit der germanischen Wissenschaft verwoben war, eine starke Professionalisierung. Universitäten in Deutschland und anderen europäischen Ländern gründeten Lehrstühle für „Germanische Altertumskunde“, „Altgermanische Philologie“ und „Germanische Rechtsgeschichte“. Gelehrte wie Jacob Grimm, der mit seiner „Deutschen Grammatik“ (1819 bis 1837) die Grundlage der vergleichenden germanischen Sprachwissenschaft legte, und Gustav Kossinna, ein Archäologe, der die sogenannte „Siedlungsarchäologie“ entwickelte, prägten das Feld maßgeblich.

Forschungsgebiete und Methodik

Die germanische Wissenschaft deckte ein breites Spektrum von Disziplinen ab, darunter Sprachwissenschaft, Archäologie, Rechtsgeschichte, Mythologie und Ethnologie. Zentral für diese Forschungsrichtung war die Annahme, dass es eine spezifische „germanische Kultur“ gab, die sich durch bestimmte Merkmale wie Sprache, Religion und soziale Organisation auszeichnete und die angeblich eine besondere Nähe zu den modernen Deutschen besaß. In der Sprachwissenschaft stand insbesondere das Studium der altgermanischen Sprachen wie Althochdeutsch, Altnordisch und Gotisch im Vordergrund, wobei der Sprachvergleich im Sinne der historischen Linguistik eine zentrale Methode darstellte. Die Annahme, dass die germanischen Sprachen eine eigene Sprachfamilie bilden, wurde maßgeblich durch die Entdeckung der Lautverschiebung bestätigt, die Jacob Grimm formulierte.

Ein weiteres wichtiges Feld war die Erforschung der germanischen Mythologie. Gelehrte wie Wilhelm Grimm und Karl Müllenhoff sammelten und analysierten alte Sagen, Mythen und Volksmärchen, die als Überreste einer vorchristlichen, germanischen Religion verstanden wurden. Dabei standen Figuren wie Odin, Thor und Loki im Mittelpunkt, die als Ausdruck einer germanischen Kosmologie und Weltanschauung betrachtet wurden. Die germanische Religion wurde als Naturreligion interpretiert, die in engem Zusammenhang mit der Umwelt und dem Klima Nordeuropas stand.

Auch die Rechtsgeschichte spielte eine zentrale Rolle in der germanischen Wissenschaft. Die Erforschung der „germanischen Volksrechte“, darunter das Salische Recht und das Langobardische Recht, zielte darauf ab, ein vermeintlich autochthones, vorstaatliches Rechtssystem zu rekonstruieren, das als urwüchsig und frei von römischen Einflüssen verstanden wurde. Die Vorstellung eines ursprünglichen germanischen Gemeinschaftsrechts fand dabei großen Anklang in der nationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts.

Ideologische Instrumentalisierung

Die germanische Wissenschaft wurde schon früh ideologisch aufgeladen und in den Dienst nationalistischer und rassistischer Ideologien gestellt. Die Betonung der „germanischen“ Herkunft vieler europäischer Völker diente oft dazu, eine überlegene, vermeintlich ununterbrochene kulturelle Tradition zu postulieren, die in direktem Gegensatz zu den romanischen oder slawischen Völkern Europas stand. Diese Vorstellung einer ethnisch homogenen und kulturell überlegenen „germanischen Rasse“ wurde besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verstärkt im 20. Jahrhundert von völkischen und antisemitischen Kreisen aufgegriffen.

Insbesondere der Archäologe Gustav Kossinna spielte eine Schlüsselrolle bei der Verknüpfung archäologischer Funde mit rassentheoretischen Konzepten. Kossinna vertrat die These, dass die germanischen Völker aufgrund ihrer ethnischen Reinheit und ihrer Siedlungsgeographie eine überlegene Kultur entwickelt hätten. Seine Arbeiten wurden später von den Nationalsozialisten instrumentalisiert, um die Expansion nach Osteuropa als eine Rückeroberung „germanischen Bodens“ zu rechtfertigen. Der Missbrauch der germanischen Wissenschaft durch das NS-Regime führte zu einer starken Diskreditierung des Forschungsfeldes nach dem Zweiten Weltkrieg.

Kritische Reflexion und Nachwirkungen

Nach 1945 wurde die germanische Wissenschaft im Lichte des Nationalsozialismus kritisch hinterfragt. Historiker und Archäologen distanzierten sich von den rassistischen und ideologischen Interpretationen, die das Feld lange Zeit dominiert hatten. Die Vorstellung einer einheitlichen „germanischen Kultur“ wurde zugunsten einer differenzierten Betrachtung der archäologischen und historischen Quellen aufgegeben. Moderne Forschungen betonen die Vielfalt der germanischen Stämme und lehnen ethnisch homogene Vorstellungen ab.

In der modernen Archäologie und Geschichtswissenschaft wird der Begriff „germanische Wissenschaft“ weitgehend vermieden. Stattdessen hat sich eine kritische Auseinandersetzung mit den Methoden und Ergebnissen der Forschungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts etabliert. Heute wird die Untersuchung germanischer Kulturen als Teil eines breiteren europäischen Kontextes betrachtet, wobei transkulturelle Austauschprozesse im Vordergrund stehen.

Analyse

Die germanische Wissenschaft war ein bedeutendes wissenschaftliches und ideologisches Projekt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das stark von den nationalistischen Strömungen dieser Zeit geprägt war. Ihre Beiträge zur Sprachwissenschaft, Rechtsgeschichte und Archäologie sind nicht zu unterschätzen, doch gleichzeitig wurde sie massiv politisch instrumentalisiert, insbesondere durch rassistische und völkische Theorien. Der Missbrauch dieser Wissenschaft durch den Nationalsozialismus führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer tiefgreifenden Revision der Forschung, die heute eine wesentlich differenziertere und kritischere Perspektive einnimmt.

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